Vom Wahlfach zum Center of Excellence

Historische Entwicklung des Department Kunststofftechnik an der Montanuniversität Leoben

Die Leobener Kunststofftechnik blickt auf fünf ereignisreiche Jahrzehnte zurück. An der Montanuniversität Leoben hatte man schon früh die Bedeutung dieses neuen Industriezweiges erkannt und mit der Etablierung des Wahlpflichtfaches "Kunststofftechnik" in die Prüfungsfächer des Studienganges Metallurgie bereits Studienjahr 1967/68 den Grundstein zur Studienrichtung gelegt. 

Vorausgegangen sind dieser Entwicklung zahlreiche einschneidende Ereignisse in der österreichischen Kunststoffindustrie, wie die Gründung der Vereinigung Österreichischer Kunststoffverarbeiter VÖK und des Laboratorium für Kunststofftechnik LKT.

 

 

Entstehung des Studiengangs Kunststofftechnik

an der Montanuniversität Leoben

Nach langen und aktiven Vorbereitungsarbeiten am 10. Juli 1969 wurde in der letzten Sitzung des Nationalrats vor der Sommerpause die Gründung der Studienrichtung offiziell beschlossen, der Lehrbetrieb sollte bereits mit dem Wintersemester 1969/70 offiziell starten.

 

Ausdrücklich sei in diesem Zusammenhang daher auch noch Folgendes festgehalten: Zwar ist die relativ frühe Gründung einer Studienrichtung Kunststofftechnik an der Montanistischen Hochschule Leoben – soweit bekannt als erste in Europa – zum großen Teil durch den Druck der abnehmenden Neuinskriptionen von Studenten ausgelöst worden, sie war aber gleichzeitig, wie durchaus festgestellt werden darf, ein sehr weitsichtiger Schritt. Die Einrichtung der Kunststofftechnik neben den klassischen Montanwissenschaften entsprach nämlich, wie bereits die damals laufende und dann auch die weitere Entwicklung gezeigt haben, voll dem generellen wissenschaftlichen und damit auch internationalen Trend der Herausbildung übergeordneter Materialingenieurwissenschaften und entsprechender Cluster verwandter Einzeldisziplinen.
(Günter B. L. Fettweis, in: 40 Jahre Kunststofftechnik Leoben)

 

Bereits im November 1969 fand außerdem bereits die erste Leobener Kunststofftagung an der Universtität statt, mit Prof. Herman, F. Mark als Keynote Speaker.

Die Studienrichtung Kunststofftechnik

im Zeitraum 1970 bis 1990

Mit der Aufnahme des Studienbetriebes in der Kunststofftechnik wurde ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Forschungsschwerpunkte an der Montanuniversität Leoben hin zu einer modernen Werkstofftechnik und der Finalindustrie getan. Das Diplomstudium bestand aus zwei Abschnitten mit insgesamt zehn Semestern. Die Spektrum der Lehre umfasste Mathematik und darstellende Geometrie, Physik und technische Mechanikm, Chemie und Kunststoffchemie, Maschinenbau und Elektrotechnik, Wirtschafts- und Betriebswissenschaften, Technologie und Verarbeitung der Kunststoffe, Prüfung der Kunststoffe, Entwerfen und Konstruieren in Kunst- und Verbundstoffen, sowie zahlreiche Wahlfächer. 

Mit den vier Hauptfächern 

  • Chemie der Kunststoffe
  • Technologie und Verarbeitung der Kunststoffe
  • Prüfung der Kunststoffe
  • Entwerfen und Konstruieren in Kunst- und Verbundstoffen

wurde bereits in dieser Anfangszeit das bis heute erfolgreiche 4-Säulen-Modell entworfen, welches ein Alleinstellungsmerkmal der Studienrichtung Kunststofftechnik in Leoben im Vergleich zu ähnlichen Ausbildungen in anderen Ländern darstellt.

Entwicklung der Lehrstühle

Zunächst wurde mit zwei Lehrstühlen begonnen: Oberregierungsrat Dipl.-Phys. Dr.rer.nat. Jan Koppelmann trat am 1.10.1971 seinen Dienst als Ordinarius für „Chemische und Physikalische Technologie der Kunststoffe“ in Leoben an. Am 3.1.1973 begann Privatdozent Dipl.-Phys. Dr. rer. nat. Werner Knappe seinen Dienst als Ordinarius für „Kunststoffverarbeitung“ in Leoben. 

Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre wurde die Kunststofftechnik von zwei auf vier Institute aufgestockt. O.Univ.-Prof. Dr.-Ing. Günther R. Langecker trat am 1.7.1989 als Nachfolger von Prof. Knappe seinen Dienst in Leoben an. Entsprechend einem Erlass des Wissenschaftsministeriums vom 3.7.1989 wurde das Institut für Chemische und Physikalische Technologie der Kunststoffe geteilt. Auf diesem Wege entstand nun auch das bereits seit 1972 beantragte Institut für "Chemie der Kunststoffe" unter der Leitung von Ao.Univ.Prof. Dr. Klaus Lederer. Im Mai 1991 trat Herr O.Univ.Prof. Dipl.Ing. Dr.mont. Reinhold W. Lang (Ph.D.) nach etwa dreijähriger Vakanz des Lehrstuhls den Dienst als Nachfolger von Prof. Koppelmann im Institut für "Werkstoffkunde und -prüfung der Kunststoffe" an.  Wenig später begann im Juli 1991 Herr O.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Rudolf Wörndle mit dem Aufbau des neuen Institutes für "Konstruieren in Kunst- und Verbundstoffen"

In der akademischen Feier zum Weihnachtstermin 1975 wurden die ersten sieben Absolventen zu Diplomingenieuren für Kunststofftechnik graduiert. Im Oster- und Sommertermin im Studienjahr 1979 folgten weitere acht Absolventen. Alle Absolventen konnten auf gute Stellenangebote aus der Industrie zurückgreifen.

Sehr wertvoll für den Aufbau der Studienrichtung Kunststofftechnik war das Mitwirken von Unternehmen in der Bereitstellung von Ferialpraxis und Plätzen zur Abfertigung von Diplomarbeiten. Außerdem stelleten sich viele Unternehmen für Exkursion zur Verfügung. Die erste einwöchige gemeinsam von den Instituten durchgeführte Exkursion führte zu Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, zu Coperion Werner & Pfleiderer GmbH & Co. KG, Stuttgart; BASF AG, Ludwigshafen; Römmler GmbH, Groß-Umstadt; KraussMaffei Technologies GmbH in München.2

Die Entwicklung von 1990 - 2010

Nach der Erweiterung der Kunststofftechnik auf vier Institute war die drängendste Frage wohl die nach dem Platz. Mit der Besetzung aller vier Lehrstühle und den zugewiesenen Räumlichkeiten verfügten die Institute Ende 1991 über eine Gesamtfläche von 2.386 m² (755 m² Bürofläche und 1.631 m² Labor- und Technikumsfläche) und waren auf mehrere Gebäude am Campus verteilt. Die Diskussion um ein neues Gebäude für die Kunststofftechnik begann bereits im Oktober 1989, entstandene Konzepte für einen Neubau konnten aber aufgrund sinkender Studentenzahlen und sehr knapper Budgets nicht realisiert werden.

Alles unter einem Dach

2008 fiel dann endlich der Startschuss für das Projekt "Zentrum für Kunststofftechnik", die kunststofftechnischen Institute sollten im ehemaligen Forschungs- und Rechenzentrum der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft ihr neues Zuhause finden. Das liebevoll als Rostschwammerl bezeichnete Forschungszentrum gegenüber von Gärnerpark und hinter der sogenannten Residenz sollte vollständig saniert und erweitert werden und somit genügend Platz für alle Institute mit Büro-, Lager- und Technikumsflächen bieten und das alles unter einem Dach. Am 27. April 2010 wurde das Zentrum für Kunststofftechnik Leoben in der Otto Glöckel-Straße offiziell eröffnet. In diesem Kompetenzzentrum für Polymerwissenschaften an der Montanuniversität Leoben arbeiten und forschen über 100 Kunststofftechniker*innen auf über 6.000 m². 

Dieses Mammut-Projekt beinhaltete die Erneuerung der Außenfassade mit grauen Aluminium-Blechpaneelen, die Aufstockung um ein viertes Stockwerk sowie zahlreiche weitere bauliche Veränderungen. Kurz vor Weihnachten 2009 konnten die ersten Maschinen und Anlagen aus den alten Technika übersiedelt werden, Mitte April 2010 wurden die ersten Büros besiedelt und am 27. April 2010 fand bei eine großen Eröffnungsfeier mit zahlreichen prominenten Gästen, darunter unter anderem Bundesministerin Dr. Beatrix Karl, BGM HR Dr. Matthias Konrad und Landesrätin Mag. Kristina Edlinger-Ploder, die offizielle Schlüsselübergabe statt. Ende Juni 2010 wurden schließlich die restlichen Teile des Gebäudes fertig gestellt und besiedelt.

Mit der Zusammenführung der kunststofftechnischen Institute in das Department für Kunststofftechnik und der Einrichtung der Professuren für Verarbeitung von Verbundwerkstoffen unter der Leitung von Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.-Ing. Ralf Schledjewski und Spritzgießen von Kunststoffen unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr.mont. Walter Friesenbichler wurde auch die Raumsituation im Gebäude angepasst. Mit neuen Forschungsthemen werden laufend neue Anlagen und Maschinen angeschafft. Derzeit forschen und arbeiten rund 130 Mitarbeiter*innen am Zentrum für Kunststofftechnik (01. Januar 2020).3

 

Das Polymer Competence Center Leoben PCCL

Im Jahr 2000 begann man Vorüberlegungen und Gespräche zur der Bewerbung um ein Kplus Kunststoff-Kompetenzzentrum an der Montanuniversität Leoben. Nach umfangreichen Vorarbeiten wurde im Jahr 2001 auf Initiative von Prof. Lang der Antrag zur Gründung  bei der damaligen "Technologie Impulse Gesellschaft mbH" (heute FFG) eingereicht. Die Gründung wurde bewiligt und das PCCL startete im Juli 2002 mit fast 40 Partnerunternehmen in seine erste vierjährige Förderperiode und hatte als Kplus-Zentrum seinen Sitz in Leoben mit zwei Außenstellen in Graz und Linz. Die wissenschaftlichen Partner des PCCL-K1 sind Institute der Montanuniversität Leoben, der Technischen Universität Graz, der Technischen Universität Wien sowie die Joanneum Research Forschungsgesellschaft mbH (Graz) und das Transferzentrum für Kunststofftechnik (Wels). Zahlreiche wissenschaftliche Kooperationen mit internationalen Partnerinstituten ergänzen das Kompetenzprofil des PCCL-K1. Zu den ca. 40 Partnerunternehmen des PCCL-K1 zählen nationale und internationale Firmen.

Durch die erfolgreiche Entwicklung des PCCL in der ersten Förderperiode und die vielen laufenden Forschungsprojekte an den Instituten für Kunststofftechnik und -wissenschaft ist das Thema Raum dringender denn je geworden. Im Jahr 2005 plante die Montanuniversität Leoben ein 7.790 m² großes Impulszentrum für Werkstoffe (IZW) westlich des Voest Forschungs- und Rechenzentrums. Dieses Gebäude sollte die beiden Kplus-Kompetenzzentren MCL und PCCL sowie drei der vier Polymer-Institute mit ihren Labors und Technikumsbereichen beherbergen und sollte Ende August 2007 fertiggestellt werden.4

 

Von der Jahrtausendwende bis heute

1999 unterzeichneten 29 europäische Bildungsminister im italienischen Bologna die völkerrechtlich nicht verbindliche Bologna-Erklärung, ein politisches Projekt zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulsystems bis 2010. Die Bildungsminister der beteiligten Nationen beschlossen die Einführung eines konsekutiven, zweistufigen Systems von Abschlüssen, die üblicherweise als "Bachelor" und "Master" bezeichnet werden. Die Hauptziele dieses Prozesses waren die Förderung der Mobilität, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigungsfähigkeit. Zu diesem Zweck sollte ein System leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse geschaffen und ein System zur Übertragung von Studienleistungen, das European Credit Transfer System (ECTS), eingeführt werden.


Dreigliedriger Lehrplan

Als Vorstufe zur Einführung des zweistufigen Studiensystems wurde im Jahr 2000 ein neues Curriculum für Polymer Engineering and Science verabschiedet, das zum einen eine Entrümpelung des Curriculums vorsah und zum anderen bereits eine Struktur aufwies, die bei Bedarf schnell in ein Bachelor- und Masterstudium umgewandelt werden konnte. Die ursprüngliche Struktur mit zwei Studienabschnitten zu je 5 Semestern wurde auf ein dreistufiges Verfahren mit 4+3+3 Semestern umgestellt.

Der erste Studienabschnitt hatte die Aufgabe, die Studierenden in das Studium einzuführen und die naturwissenschaftlichen und technischen Grundlagen zu erarbeiten.Der zweite Teil des Studiums diente der Vertiefung der Ausbildung. Der dritte Teil des Studiums diente der weiteren Vertiefung des Faches und der speziellen wissenschaftlichen Berufsausbildung in den vie Säulen des Studienganges, zusätzlich war eine Diplomarbeit anzufertigen. 


Bachelor- und Masterstudium

Nachdem es an der Montanuniversität Leoben bereits zwei Studienrichtungen gab, die sich für die Umstellung auf die neuen Bachelor- und Masterstudien entschieden hatten ("Metallurgie" und "Industrieller Umweltschutz, Entsorgungstechnik und Recycling"), beschloss im April 2003 auch die Studienkommission für Kunststofftechnik, das Diplomstudium in ein Bachelor- und Masterstudium umzuwandeln. Die damalige 4+3+3 Semesterstruktur und die zu Beginn des Studiums eingeführte Studienarbeit erleichterten die Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse. 

Im Jahr 2015 war eine größere Umgestaltung des Studiengangs erforderlich. Zum einen war die ungewohnte Semestereinteilung (7+3) für das Bachelor- und Masterstudium nicht mit dem internationalen Standard von 6+4 vereinbar, was einen Studierendenaustausch in beide Richtungen (incoming und outgoing) erschwerte. Zum anderen musste eine Gesetzeslücke bezüglich der Pflichtpraktika geschlossen werden. Da das Praktikum ein verpflichtender Teil des Studiums ist und von jedem Studenten absolviert werden muss, müssen auch Credits für diese Arbeitsbelastung vergeben werden, was in den bisherigen Curricula nicht berücksichtigt wurde. Zusätzlich gab es ein Ungleichgewicht zwischen dem Bachelor- und dem Master-Studiengang in Bezug auf den Studienaufwand mit der größeren Arbeitsbelastung im Bachelor-Studiengang, was es fast unmöglich machte, den Bachelor-Abschluss in einem angemessenen Zeitrahmen zu absolvieren. Um diesen Problemen zu begegnen, wurden die folgenden zwei Maßnahmen ergriffen:

  • Die Semestereinteilung wurde prinzipiell auf 6+4 geändert und damit einige Lehrveranstaltungen aus dem überfüllten Bachelorstudium in das Masterstudium verlagert.
  • Das Praktikum wurde komplett in den Bachelor-Studiengang verlagert und damit ebenfalls von 6 auf 4 Monate (80 Tage) reduziert, was 30 Credits entspricht. Um diese zusätzlichen 30 Credits in den Bachelor-Studiengang einzupassen, musste formal ein zusätzliches 7. Da die Praktika nach wie vor in der Regel in den Semesterferien absolviert werden, ist es theoretisch immer noch möglich, die Lehrveranstaltungen des Bachelorstudiums innerhalb von 6 Semestern abzuschließen, wie es für die internationale Kompatibilität vorgesehen ist.

Neben diesen großen Änderungen in den Studienplänen wurde das Studienprogramm vor allem in den Wahlpflichtfächergruppen erweitert, was vor allem auf die beiden neuen Institute zurückzuführen ist, aber auch auf eine generelle Weiterentwicklung und Erweiterung des Kursprogramms aller anderen Institute zu aktuellen Themen der Polymerwissenschaft und -industrie. Um der zunehmenden Internationalisierung Rechnung zu tragen, werden viele der bestehenden und die meisten der neuen Wahlfächer nun in englischer Sprache angeboten. Dies macht Leoben einerseits für Incoming-Studenten ohne Deutschkenntnisse attraktiver und bereitet andererseits auch unsere eigenen Absolventen besser auf das Berufsleben in einer zunehmend globalen Arbeitswelt vor.5

 

 


Quellen:
1 Günter B. L. Fettweis; in: 40 Jahre Kunststofftechnik Leoben
2 Albert F. Oberhofer; in: 40 Jahre Kunststofftechnik Leoben

3 Stephan Schuschnigg; in 50 Years POLYMER ENGINEERING AND SCIENCE at Montanuniversität Leoben
4 Walter Friesenbichler; in 50 Years POLYMER ENGINEERING AND SCIENCE at Montanuniversität Leoben
5 Thomas Lucyshyn; in 50 Years POLYMER ENGINEERING AND SCIENCE at Montanuniversität Leoben